Der Brief der Vertrauenskörperleitungen der IG Metall in den deutschen Volkswagen-Werken an den VW-Vorstand und den Aufsichtsrat


 

Sehr geehrte Damen und Herren in Aufsichtsrat und Vorstand,

 

 

 

wir als IG Metall Vertrauenskörperleitungen der inländischen VW-Werke sind zunehmend massiv besorgt über die vielen vom Vorstand zu verantwortenden negativen Presseberichte über unser Unternehmen Volkswagen. Dieses schlechte Bild in der Öffentlichkeit zerstört das über Jahrzehnte gewachsene Kundenvertrauen und gefährdet so unsere Arbeitsplätze. Außerdem leidet die ganze Belegschaft jeden Tag unter dem Verlust des Ansehens unseres Unternehmens.

 

 

Für uns ist das Maß inzwischen unerträglich. Mittlerweile ist ein Zustand erreicht, in dem sich immer mehr Kolleginnen und Kollegen für ihren Arbeitgeber schämen und ihn teilweise sogar verleugnen.

 

 

Zuletzt hat uns das Marketing- und Kommunikationsdesaster zur Instagram-Werbung des neuen Golf erschüttert, bei dem sich VW mit Rassismusvorwürfen konfrontiert sieht. Mit der Erstreaktion auf diese Vorwürfe hat unser Unternehmen die Hinweise und Sorgen unserer Kundinnen und Kunden augenscheinlich nicht ernstgenommen. Diese erste Stellungnahme hätte so niemals erfolgen dürfen!

 

 

Dies ist freilich nur ein Beispiel einer ganzen Kette von Managementfehlern, die uns viel Geld kosten, unsere Imagewerte weiter nach unten ziehen und die bei den Beschäftigten den Eindruck hinterlassen, dass dem aktuellen Vorstand von Volkswagen die Dinge zunehmen entgleiten. Um das klarzumachen: Kommunikationspannen wie zuletzt rund um die Schlagworte „EBIT macht frei“, Uiguren und nun den Golf-Anlauf und seine Werbung gefährden Unternehmenswohl und Arbeitsplätze.

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

 

so geht es nicht weiter! Wir fürchten um den Kern unserer Volkswagen-DNA, wonach Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung gleichrangige Unternehmensziele sind.

 

 

Unser Golf, ein Fahrzeug, das Generationen geprägt hat, immer Emotionen geweckt hat, jeder Altersklasse gerecht wurde und einer ganzen Fahrzeugklasse seinen Namen gegeben hat, dieser neue Golf, unser „Brot-und-Butter-Auto“, versagt in der aktuellen Generation 8 zurzeit auf ganzer Linie.

 

 

Als der Golf 7 auf den Markt kam, war die gesamte Händlerschaft in Deutschland in Aufregung. Es gab den Markteinführungstermin, wie bei jeder Golf-Generation zuvor. Es wurden Events veranstaltet, um die Kunden für unseren neuen Golf zu begeistern. Alle Handelsmitarbeiter waren zu den Markteinführungen im Autohaus, um das Fahrzeug zu präsentieren und Probefahrten anzubieten. Vier, fünf, sechs, oder mehr Fahrzeuge standen zum Bestaunen in den Handelsräumen. Es gab ganze Automeilen, Bratwurststände, Hüpfburgen für die Kinder. Man wusste: Es ist die Markteinführung eines neuen Golf – des unangefochtenen Königs in der Kompaktklasse.

 

 

Bei der Markteinführung vom Golf 8 heißt es aber: Fehlanzeige. Nichts! Die Verantwortlichen haben vermutlich gedacht: „Verkauft sich ja von selbst so ein Fahrzeug.“ Aber von einer verfehlten Markteinführung will ja kein Vorstand etwas wissen. Dass jetzt auch noch Elektronik und Software nicht so wollen, wie sie sollen, und wir aktuell keinen Golf 8 mehr verkaufen können, macht das Desaster noch schlimmer!

 

 

Aber der Golf 8 allein ist ja nicht das einzige Problem: Aktuell haben wir so gut wie kein Angebot. Die neuen E-Fahrzeuge wurden verschoben, es gilt einen Bestellstopp beim Tiguan, da warten wir ja auf die Produktaufwertung. Wir haben einen Bestellstopp beim e-Golf und das Bestellende für den Golf Sportsvan. Auch die Fahrzeuge mit den bevorstehenden Abgasnormen sind so gut wie nicht vorhanden. Was passiert, wenn deswegen die geplante Kaufprämie an Volkswagen vorbeigeht? Bei der Vorbereitung auf WLTP hat es schon ein ähnliches Desaster gegeben. Unterm Strich stand auch dort: Das Management hat es nicht rechtzeitig in den Griff bekommen, die Produkte an den Start zu bringen – und der Vorstand zuckte nur mit dem Schultern.

 

 

Dabei steht unsere Belegschaft wie immer bereit! Trotz Dieselgate, trotz Corona! Es hat sich hier in den Werkshallen und Büros nichts daran geändert, dass wir die besten Werkerinnen und Werker, Fachleute, Expertinnen und Experten an Bord haben, die hier die besten Autos der Welt auf den Markt bringen könnten. Wenn nur die Struktur stimmen würde, für die das Management sorgt.

 

Wir hätten eigentlich alles in der Hand, um unsere Modelle anzupreisen und vor allem Land auf, Land ab die Politik für unser Unternehmen und unseren Beitrag zum Qualitätssiegel „Made in Germany“ zu begeistern. Nicht zuletzt hängt von einem solchen Verhältnis ja auch die Bereitschaft ab, unsere Automobilindustrie mit Kaufanreizen wieder anzuschieben.

 

 

Genau dafür hätten wir jetzt gern die richtigen Fahrzeuge am Markt. Nämlich Fahrzeuge, die der Kunde auch kaufen will in Zeiten, wo die Prioritäten wohl ganz anders gesetzt werden. Wir benötigen technisch einwandfreie Fahrzeuge, die mit gut durchdachten Markteinführungen und flankierenden Werbemaßnahmen unsere Kunden zum Kauf animieren.

 

 

Wir richten hiermit einen klaren Appell an den Vorstand und verlangen Antworten – allen voran auch von dessen Vorsitzendem Herrn Dr. Diess – auf folgende Fragen:

 

 

• Wer von Ihnen trägt hier die Verantwortung dafür, dass wir Technik und Marketing wieder in den Griff bekommen?

 

 

• Wer übernimmt die Verantwortung für das Produktdesaster unserer aktuellen Modellpalette?

 

 

• Und wie wollen Sie zukünftig vermeiden, dass hier im Konzern unnötig Geld verbrannt wird, weil hier keine eindeutigen Konzernstrategien erkennbar sind?

 

 

Was wir erwarten, ist nicht mehr als ein sichtbares Krisenmanagement. Dazu zählt auch, dass es endlich ein Signal von der Spitze des Vorstandes gibt!

 

 

Der Vorstand muss sich endlich vor der Belegschaft erklären! Das gilt umso mehr in Corona-Zeiten, in denen wir Kolleginnen und Kollegen das nicht wie gewohnt auf unseren Betriebsversammlungen direkt einfordern können. Wann, wenn nicht in der jetzigen Situation, sind Führung gefragt und unmissverständliche Erklärungen von ganz oben zur Lage unseres gemeinsamen Unternehmens?

 

 

An den Bedingungen, die wir hier vorfinden müssten, hat sich nichts geändert: Um Volkswagen wieder in ruhigeres Fahrwasser zu steuern, bedarf es Menschen, die mit technischem Verstand, der nötigen Ehrfurcht vor der Aufgabe und der Hingabe zum Automobil täglich ihr Bestes geben für das wichtigste Gut, das wir haben: unsere Kundinnen und Kunden. Denn die geben uns sonst die Quittung – übrigens zusammen mit den Aktionärinnen und Aktionären.

 

 

Wir sorgen uns um die Arbeitsplätze der rund 670.000 Beschäftigten im Volkswagen-Konzern! Zusammen mit deren Familien sowie den abhängigen Zulieferern und Dienstleistern geht es hier um eine Riesenverantwortung – eine, die es so in keinem anderen europäischen Großunternehmen gibt.

 

 

Wir Kolleginnen und Kollegen sind bereit, diese Krise zu meistern. Wir sind bereit, wie gewohnt alles zu geben, uns krumm zu machen. Denn es geht um uns, um unsere Existenz und um unsere Arbeitsplätze.

 

 

In dieser Situation kommt es jetzt darauf an, dass der Vorstand alles dafür tut, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen und ein klares Aufbruchssignal zu senden. Das gilt für unsere Kundinnen und Kunden genauso wie für die Belegschaft im Volkswagen-Konzern. Wir glauben, dass es dafür noch nicht zu spät ist. Aber viel Zeit bleibt uns nicht.

 

Um das abschließend hier noch einmal ganz unmissverständlich zu fordern:

 

 

Sehr geehrte Vorstandsmitglieder, sehr geehrter Vorstandsvorsitzender Dr. Diess,

Sie tragen die Verantwortung für diese aktuelle Situation, die uns nicht mehr ruhig schlafen lässt.

 

 

Wir fordern Sie daher auf, eine Stellungnahme abzugeben. Erklären Sie sich! Schlagen Sie wieder eine Brücke zur Belegschaft. Teilen Sie uns mit, was die nächsten Schritte sind. Eines ist dabei übrigens klar: Weitere Sparprogramme auf Kosten der Beschäftigten sind keine Lösung!

 

 

In diesem Sinne unterzeichnen dieses Schreiben die IG Metall Vertrauenskörperleitungen aller Werke.

 

 

Wolfgang Kuznik Standort Wolfsburg

 

Auke Tiekstra Standort Salzgitter

 

Thomas Freiberg Standort Kassel

 

Andreas Matthias Standort Hannover

 

Herta Everwien Standort Emden

 

Mark Seeger Standort Braunschweig

 

Jan Andrae Standort Zwickau

 

Joachim Bigus Standort Osnabrück

 

Martin Maatz Standort Dresden

 

Jörg Treuheit Standort Chemnitz

 

Holger Neumann FS AG Braunschweig


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